Im Hof ein kleiner Pool. Locker hängen die engen Jeans um die schmalen Hüften der Jungs. Ihre Haare und ihre schmächtigen Oberkörper sind noch nass. Sie sind vielleicht zwischen dreizehn und sechzehn. Eine Gruppe von fünf. Einige auffallend hübsch. Die Hand auf die Hüfte gestützt, stolzieren sie in geschmeidigen Schritten voreinander auf und ab, werfen sich in Pose, als wäre eine Kamera anwesend und sie die Models eines Fotoshoots. Dann werfen sie sich lustige Gemeinheiten über ihr Aussehen an den Kopf, überbieten sich in Schlagfertigkeit, bis einer die Kontenance verliert und mit flacher Hand und angewinkeltem Ellenbogen den anderen zu ohrfeigen versucht. Lautes Gekeife und schrilles Kichern sind die Folge.
Fierce und Camp, mit diesen Begriffen lassen sich die Jungs am besten beschreiben. Das sind Begriffe die in der New Yorker Schwulen- und Dragszene entstanden. Das meint eine Art gewiefte Flamboyanz, die Fähigkeit, sich schön und divenhaft in Pose werfen zu können und zeitgleich gerissen und schlagfertig zu sein. Die Begriffe lassen sie sich nicht übersetzen. Das Bild, die Szenerie hingegen schon. Als eine Manier, die man in einen Kontext setzen kann. In ihrer Fierceness stehen die Jungs New Yorker Drag Queens in nichts nach. Feiernd stehen sie am Rand des Pools. Sie feiern sich, ihre Körper, ihre Sexualität.
Felipe hat sich sein T-Shirt wieder übergezogen. Unter der roten Baseballkappe schimmert das leicht aufgehellte Haar. Wir beobachten die Szene, und Felipe quittiert sie mit einem müden Lächeln. „Hier lieben mich alle, weil ich so nett bin“, sagt er ganz selbstverständlich, mit einer großartig divenhaften Geste. Felipe ist nicht nur nett, sondern auch einer der hübschesten, mit seiner zarten Figur und seinem filigran geschnittenen Gesicht. Es ist schwer zu sagen, wie alt Felipe ist. Vierzehn, vielleicht auch sechzehn. Ich nippe an meinem heißen und milden Kaffee in der Größe eines Espressos, den mir eine der Sozialarbeiterinnen angeboten hat, der aber nicht wach machen will, und Felipe fragt mich, ob ich wirklich nicht schwul bin. Wir könnten ja soviel Spaß haben. „Nein, natürlich nicht für Geld, einfach so“, sagt er. Dann lächelt er. „Dann eben nicht.“ „Dann eben nicht“, denke ich, als die Sozialarbeiterin sagt, dass sie nicht will, dass man hier filmt. Es wäre ein so schönes Bild geworden. Ein Bild, das ohne beigefügten Text etwas ganz anderes erzählt hätte. Etwas anderes über die Situation, so wie ich sie wahrnehme. Etwas anderes über den Kontext und wie er tatsächlich ist. Schwule, fierce Jungs in einem braun gefliesten Innenhof, mit einem kleinen Pool. Anders als die Begriffe oder der Text sprechen die Bilder eine eigene Sprache. Sie werden übersetzt, indem man sich eine eigene Geschichte über sie erzählt. Felipe wirft sich seinen Rucksack, in dem er seine Habseligkeiten mit sich herumträgt, über die Schulter, wie ich es auch mit meiner schweren Kameratasche tue. Die Jungs verbringen den Rest des Tages an unterschiedlichen Orten der Stadt. Felipe in der Regel am Ende der Straße, hinter dem Platz, auf dem Obst- und Gemüseverkäufer ihre Stände haben. In dem Hof könnten sie den ganzen Tag aufhalten, aber die Straße ist ihnen lieber. Hier drin dürfen sie keine Drogen nehmen.
Wir verlassen den schattigen Hof durch ein massiges Eisentor, und Felipe taucht in ein anderes Licht ein, in einen anderen Kontext: die Straße, auf die es lange nicht geregnet hat. Der erste Schritt in das Licht fühlt sich an, als würde man in eine Wand aus Staub treten und mit dem Staub legt sich der Geruch von Dieselbenzin und Exkrementen auf die Haut. Mein Problem sind jedoch nicht die Hitze oder der Gestank. Mein Problem sind die Bilder, die ich filme und das, was sich nicht über sie erzählt. Der Kontext und die Straße, die lassen sich in den Körpern und in den Bewegungen sehen und lesen, denke ich. So wie ich Felipe sehe, wie sich sein Körper über die Straße bewegt. Wer sich in diesem Viertel so bewegt, ist schnell einzuordnen. Und wenn ich jetzt ein Bild von ihm machen würde, so wie er da geht, passt das viel eher zusammen mit dem, was er erzählt, mit Medellín, mit Kolumbien, dem Krieg und der Welt, wie sie nun einmal ist. Die Bilder sprechen zwar eine eigene Sprache, aber nie für sich selbst und brauchen immer einen Text, der die Zusammenhänge erklärt oder verfälscht. Felipe sagt: „Jungs verdienen hier viel besser als die Mädchen. Mädchen kosten ungefähr 10 000 Pesos.“ Felipe kostet 30 000. „Das ist okay“, sagt er. „Das sind umgerechnet acht Euro“, denke ich.
An der Ecke, wo die kleine Straße auf eine stark befahrene Kreuzung stößt, sind selten weniger als fünfzehn Straßenkinder. Es gibt einen kleinen Vorsprung am Eckgebäude, wo man sich unterstellen kann. Manchmal bauen fliegende Händler eine Garküche auf und verkaufen frittierten Fisch. Gegenüber ist ein kleines Deli, auf der anderen Straßenseite ein Mechaniker, der den Kindern für ein paar Cent den neongelben Klebstoff, den sie aus kleinen Flaschen schnüffeln, verkauft. Ihr Alter ist vielleicht zwischen neun und neunzehn. Aus ihren Familien in den Slums flüchteten sie ins Zentrum. Wenn sie älter sind, wechseln sie die Drogen, und mit den Drogen wechseln sie ihren Standort. Hier schnüffeln sie Klebstoff, Gras können sie sich nicht leisten. Sobald sie anfangen, Crack zu rauchen, das aus den Abfällen der Kokainproduktion hergestellt wird, treffen sie sich am Fluss. Am Fluss endet dann meistens eine Reise, die irgendwo auf dem Land begann, von dem ihre Eltern vor Paramilitärs oder der Guerilla fliehen mussten.
Seit fast drei Wochen suche ich nun täglich die Straßenecke oder den Platz mit den fliegenden Händlern ein paar Meter weiter unten auf. Ich kenne mittlerweile die meisten bei Namen und ihre Geschichten. Ihre Geschichten zu erfahren, fiel nicht schwer. Das Problem sind viel eher die Bilder, die oft eine ganz andere Geschichte erzählen. Ursprünglich sollte ich eine Dokumentation für ein karitatives Projekt drehen, über einen Trommelworkshop mit zwei deutschen Jazzmusiker und den Straßenkindern. Einen dieser Filme über Projekte, die einem erzählen, dass da etwas getan wird. Also eine dieser Geschichten über die Fremde, die man sich in dann Deutschland als eine Geschichte über sich selbst erzählen kann. Bei dieser Geschichte wollten die Straßenkinder aber nicht mitspielen, und weil keiner einem lustlosen Workshop zusehen will, soll jetzt ein anderer Film gemacht werden, zudem es noch kein Drehbuch oder Konzept gibt. Wie jeden Tag stelle ich meine Kamera auf, ohne zu wissen was ich filme soll. Mittlerweile fühlt sich dieser Vorgang an wie routinierte Arbeit. Die Händler verkaufen Obst, die Kinder ihre Körper, und eines Tages verkaufe ich meine Bilder.
Andrés hatte ich als ersten kennen gelernt. Andrés ist wahrscheinlich fünfzehn, 1,50 groß und sieht aus wie eine mini Latinoversion von 50 Cent, seiner Physiognomie, des Lächelns und der Hamsterzähne wegen. Ich nenne ihn 50 Centavos, und das findet er ziemlich lustig. Er legt den Arm um meine Hüfte, lächelt wie 50 Cent und beginnt, mir etwas zuzunuscheln, das er aufgrund der Wirkung des Klebers zu Ende zusprechen nicht mehr in der Lage ist. Die meisten der Kinder begrüßen mich mit Händedruck oder mit Umarmungen. Das, was man später auf meinen gefilmten Bildern sehen wird, ist hauptsächlich, wie sie herumsitzen und schnüffeln, sich küssen oder raufen. Das Wesentliche wird von ihnen über den Körper, nicht über Sprache kommuniziert. Xavier kann nur über den Ausdruck seines Körpers kommunizieren. Er drückt mich am festesten. Immer mal wieder oder einfach so, wenn er meine Aufmerksamkeit will. Xavier ist taubstumm. Gebärdensprache hat er nie gelernt, glaube ich.
„Es ist alles okay“, sagt Felipe. Anschaffen mache ihm nichts aus. Die meisten seiner Kunden seien keine Reichen oder Gringos. „Es sind dann doch eher die Männer aus dem Viertel und die sind okay. Nur einmal, da ging bei Juan etwas schief.“ Juan ist Felipes kleiner Bruder. Er sei elf. Er passe auf ihn auf. „Einmal, da hat sich Juan bei einem Mann mit der Syphilis angesteckt. Aber das ging vorbei.“ Juan ist klein, schmächtig und sieht aus wie neun. Wie Felipe hat er helle Haut, braune Haare und große rehbraune Augen. Äußerlich sieht Juan noch relativ gesund und sauber aus. Das junge Aussehen geht auf die Mangelernährung zurück. Juan schmiegt sich in Felipes Arm und schaut in die Kamera und legt mit diesen riesigen rehbraunen Augen einen Blick auf, mit dem er wahrscheinlich die Hälfte seines Lebensunterhalts verdient. Die Geschichten fliegen einem zu. Das Problem sind die Bilder, denke ich, und auf dem Display meiner Kamera sehe ich diese zwei rührenden Jungs, wie sie die Arme umeinander gelegt haben und an ihren Klebstoffflaschen schnüffeln. Ein Bild, das man sich in Deutschland als eine der Geschichten von unschuldigen Kindern, Abscheu vor Armut, Mitleid und Spendenbereitschaft als politische Praxis erzählen wird. Nein, das Problem sind nicht nur die Bilder, sondern eben diese Geschichten, die wir uns über sie erzählen. Die Dokumentation des Elends hat nichts Politisches inne und Mitleid und Barmherzigkeit stellen wirtschaftliche, politische und soziale Zusammenhänge auch nicht in Frage.
Dabei stehen doch genau diese Zusammenhänge in den Körpern, eingeschrieben wie eine Geschichte, die man sich aber nicht erzählt. Nur einen Kameraschwenk weit entfernt, da befindet sich Carlos, der sich an die Mauer des Eckgebäudes zum Schlafen gelegt hat in seinem zerfetzten Poncho und in Hosen, von denen man nicht genau sagen kann, welche Farbe sie einmal hatten. Carlos‘ Körper ist von Brandnarben übersät. Als die Guerilla die Landstraße absperrte und das Feuer entfachte, war er der Einzige seiner Familie, der es aus dem brennenden Jeep heraus schaffte.
Wenn man versucht, die Körper der Straßenkinder wie Bilder zu lesen, fällt einem als Erstes auf, dass sie nicht nur voller Dreck, sondern auch voller Narben sind. Und jede dieser Narben hat eine Geschichte. Es sind Geschichten von Kämpfen, von überstandener Bedrohung oder von Überfällen. Diese Narben sind wie eine Schrift, die nur derjenige entziffern kann, der sie trägt. Wenn man diesen Geschichten zuhört, begreift man, dass in die Körper der Straßenkinder die Chronik ihres Lebens eingeschrieben ist. Die Narben auf ihrer Haut sind wie belichtete Filmstreifen, die erst durch ihre Erzählungen entwickelt und sichtbar gemacht werden. Achtmal stach Lilianas Ex-Freund auf sie ein, als er herausfand, dass das Kind, das sie in ihrem Bauch trägt, nicht von ihm war.
Uns allen ist der Körper Abbild und Text der Erinnerung. Die Haut ist wie ein einzigartiges Palimpsest, das den Körper in einen Kontext stellt. Etwas schreibt sich in den Körper ein, damit es im Gedächtnis bleibt. Die mentale Erinnerungen können trügen, die Wahrheit, die sich in die Körper schreibt, ist unbezweifelbar. Während Liliana erzählt, streichelt sie mit der linken Hand ihren Bauch. Mit der Rechten berührt sie vorsichtig die hässliche Wulst, zu der die Wunde auf ihrer Wange verwuchs. Wenn man sich dieses Bild mit diesem versehrten Körpers ansieht, will man die Augen verschließen, weil der Schmerz so nachvollziehbar erscheint, weil man sich sich den Körper immer als einen gemeinsamen Ausgangspunkt erzählt. Aber genau das ist ein Problem.
Liliana schnüffelt, sie ist im siebten Monat schwanger. Gestern wollten ein paar Obstverkäufer sie deswegen verprügeln. Ihr erstes Kind lebt bei der Großmutter. Dem nächsten Kind wird sie eine gute Mutter sein, sagt sie und füllt Felipe etwas von ihrem Klebstoff in seine Flasche ab. Das fiel mir als erstes auf. Die Straßenkinder teilen Essen, Behausungen, Körper, Drogen und Kleber. Aber niemals teilen sie die Flaschen oder Gefäße, aus denen sie schnüffeln. Die Gefäße sind meist Abfall, leere Schnapsflaschen, aufgebrochene Deoroller, kleine Plastiktüten. Wenn sie daran schnüffeln, verstecken sie den Arm unter dem Hemd. Dann ragt nur die Öffnung unter dem Kragen hervor. So wie sie die Flaschen halten, sieht es aus, als drückten sie etwas Kleines, Schutzbedürftiges an die Brust. Vielleicht tun sie es auch nur, damit die aufsteigenden Gase durch die Luft nicht unnötig verdünnt werden. Das Schnüffeln erzeugt eine spezifische Haltung und Silhouette des Körpers, die zumindest jeder Kolumbianer lesen kann. Die Körper erzählen also nicht nur eine persönliche Geschichte. Sie berichten von einer sozialen Wirklichkeit, die man auch Gesellschaft nennen kann.
Genau davon machte ich vor etwa einer Woche ein Bild, als ich die Lesbengang im Stundenhotel kennengelernt hatte. Unter dem Vorwand, vom Balkon des Gebäudes eine Totale des darunter liegenden Platzes zu filmen, hatte ich eines der Hotels, in das die Freier mit den Kindern gehen, besucht. Ich hatte gerade die Kamera auf das Stativ gebaut, als plötzlich vier laute sechzehnjährige Dykes im Zimmer standen, die ich im ersten Moment für Stress suchende Jungs hielt. Laura wäre nicht mal an ihrer Stimme als Mädchen zu erkennen. Und als ich sie bat, ihre Baseballkappe für mich abzunehmen, das lockige Haar herunterfiel, hatte ich das Gefühl eine komplett andere Person zu sehen. Laura war unglaublich vulgär und dabei wahnsinnig komisch. Wir rauchten Zigaretten und die Mädchen erzählten mir von aufregend klingenden Lesben-Raves in Medellín. Ich erzählte nicht minder aufgeregt von Berlin, der Panoramabar und Snax-Parties im Berghain, aber Laura gab sich völlig unbeeindruckt und sagte: „Wir tanzen nur auf Reggaton und lecken Muschis.“ Dann brachte sie mir eine ganze Reihe an Fachtermini bei, bei denen ich mich fragte, warum sie mir meine kolumbianische Mutter nie beigebracht hatte. Wir hatten einen Riesenspaß! Und als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippte, ich mich umdrehte und das erste Mal Mariella sah, dachte ich eine Erscheinung aus einer Lolita-Verfilmung von David Lynch vor mir zu haben. Mariellas Haut sah aus wie gebleicht. Sie war das Gegenstück zu den Dykes. Sie kam gerade aus der Dusche und ihr an sich zierlicher Körper steckte in einem Oberteil, dessen Ausschnitt bis zum Bauchnabel reichte und ihre für diesen zierlichen Körper wirklich großen Brüste so dermaßen hochpushte, dass sie wie gemacht aussahen. Mariella war Lauras Freundin und sie musterte mich mit diesem bestimmten Blick. Diesem fordernden Blick, der einem nicht ausweicht, der ungebrochen in den eigenen Augen verharrt, bis es unangenehm wird, bis man förmlich nieder gestarrt wurde. Ausweichend versuchte ich auf den Boden zu schauen. Aber Mariella stellte sich so dicht vor mich, dass da kein Boden mehr zu sehen war, sondern nur diese unglaublich hochgepushten Brüste. Und auf diese Brüste einer 16-jährigen zu schauen, das fühlte sich nicht nur unglaublich falsch an, das machte mir kurzzeitig Angst. Einen Ausweg suchend raste mein Blick von unten nach oben, von oben nach unten. Sie führten mich in ihr circa acht Quadratmeter großes Zimmer, an dessen Wände Poster martialisch muskulöser Rapper neben Plakaten von Tweety und Jesus hingen. Seit einem Jahr würden sie hier wohnen, sagte Laura, und fragte, ob ich Poppers, MDMA, Koks oder Gras wolle. Sie machte auf dicke Hose. Die Miete aufzutreiben sei für sie kein Problem. Dabei war es so offensichtlich, dass nicht sie, sondern Mariella das Geld verdiente. Ich macht ein paar Fotos, und als ich sie bat, auf dem Bett ein klein wenig näher zusammenzurücken, begannen sie dermaßen heftig rumzuknutschen, dass ich fragte, ob ich nicht lieber den Raum verlassen soll. Das entstandene Bild würden dem deutschen heterosexuellen Betrachter wohl eine Geschichte von Unterschieden erzählen, zu denen sich der eigene Körper abgrenzt: Ein Junge mit Kappe, der eigentlich ein Mädchen ist, und ein Mädchen mit einem grottesk knappen Oberteil, großen hochgepushten Brüsten an einem ansonsten kindlichen Körper in einem Zimmer, das nach Jugendknast aussieht.
Der festen Überzeugung, meinen Dokumentarfilm nur noch über die Mädchen im Stundenhotel drehen zu wollen, brachte ich die Nacht kein Auge zu und malte mir den gesamten Films aus, der dann idealerweise damit enden würde, dass wir alle zusammen nach Thailand ziehen und in einer sozialistischen Transgender-Kommune einen Modellbahnladen oder eine Bäckerei aufmachen würden. Stattdessen konnte ich an den folgenden Tagen im Hotel niemand vorfinden. Erst einige Zeit später traf ich Laura zufällig ziemlich verkatert auf der Straße. Dieses eine Mädchen hätte sich doch nur auf ihren Schoß gesetzt, erzählte Laura, aber Mariella hätte eine Riesen-Szene gemacht und weil sie nicht aufgehört hätte rumzustressen, hätte sie ihr eben eine rein gehauen. Mariella wäre in ein Taxi gestiegen und nicht mehr aufgetaucht. Ich traf keine der beiden wieder.
Die Körper der beiden erzählen in den Bildern nicht nur von Abgrenzung und Unterschieden. Sie zeigen die Ironie der Geschichten, die wir uns nur unbewusst erzählen. Denn so fern der eigenen Lebenswelt diese Körper auch aussehen mögen, erzählen sie doch gerade von dem, was uns verbindet. Nämlich von einem Befehl, der sich nicht nur an den Blick richtet, indem er uns sagt, wie wir uns diese Körper anzusehen haben, sondern an dem sich auch die Körper ausrichten: Das seid ihr nicht, das seid ihr - oder noch besser - das könntet und solltet ihr sein! Dieser Körper von Mariella, der erzählt die gleiche Geschichte wie eine Bikiniwerbung oder eine Burka. Es erzählt sich in den Bildern nicht der Körper an sich, sondern seine Anreizung, Formung und Konditionierung als gemeinsamer Ausgangspunkt.
Als Erica vor ein paar Tagen ein Bild von ihr mit mir wollte, legten wir die Arme umeinander und lächelten in die Kamera. Das Bild zeigt mich, einen Deutschen, 32 Jahre alt, in Jeans und weißem T-Shirt, die Haut von der Sonne gebräunt, und Erica, neunzehn, in einem vergilbten Mieder, die Haut starrend vor Dreck. Mit Erica, die eigentlich sehr süß und frech aussieht, haben es die letzten Jahre nicht gut gemeint. Ein Schneidezahn wurde ihr ausgeschlagen. Was erzählt sich über dieses Bild, wenn man es zu Hause zeigt? Nachdem das Bild gemacht war, küsste mich Erica unvermittelt auf den Mund und sagte, ich solle allen in Deutschland sagen, dass sie meine Freundin sei. Ich will hiermit mein Versprechen halten und mit dem Bild bleibt eine nette Anekdote, die aber nur dann nett bleiben würde, wenn ich sie nicht zu Ende erzählte. Wenn ich nicht sagen würde, dass ich für den Rest des Tages den Geschmack von Klebstoff im Mund hatte und an die Möglichkeit einer Hepatitisinfektion dachte. Die Bilder erzählen nicht von einem Moment der Gemeinsamkeit über kulturelle Differenzen hinweg, sondern vielmehr von dem, was uns trennt. Sie erzählen von Unterschieden. Und genau deshalb darf in den Bildern der Körper auch nicht als gemeinsamer Ausgangspunkt erzählt werden. Denn auf die Unterschiede in den Einschreibungen kommt es an. Man müsste diese selbstverständliche Geschichte über unsere “gleichen”, zumeist weißen Körper aufgeben. Denn der Umstand, zwei Arme und zwei Beine zu haben, macht die Körper nur ähnlich. Er schafft aber keine Gemeinsamkeit. Nicht auf der Gleichheit oder der Ähnlichkeit, sondern auf den Unterschieden müsste das Lesen der Körper, ja, müsste auch die Sprache beruhen. Erst dann würde man in den Bildern die Körper der Straßenkinder anders zu lesen wissen, und sich das, was sie zeigen, auch aneignen können.
Aus einer Gruppe, die ich zu filmen versuche, tritt Xavier, schiebt die anderen zur Seite, macht sich Platz und stellt sich vor mir auf. Xavier beginnt zu tanzen, eine Mischung aus Breakdance und Boogaloo zu nicht vorhandener Musik, zu einer Musik, die er nie gehört, nur deren Bässe er vielleicht gespürt hat. Wahrscheinlich hört Xavier mit der Haut, und braucht keine hörbaren Töne, um tanzen zu können. Vielleicht sollten wir die Bilder der Körper auch nicht mit Augen, sondern mit der Haut oder den Ohren betrachten, denke ich, und lasse die Kamera laufen.
Xavier tanzt, und jetzt stürmen alle zu mir und zur Kamera. Ein anderer schwarzer Junge hält die Hand vor den Mund und beginnt zu beatboxen, einen Takt zu spielen, den Xavier nur in der Bewegung des Anderen sehen, aber nicht hören kann. Andrés, oder besser gesagt, 50 Centavos, fängt an zu rappen, und um uns herum bildet sich eine Traube. Ich schwenke hinüber zu ihm, und auch Andrés hat die Faust an den Mund geführt, als würde er darin ein Mikrophon halten, während sich die anderen beiden Jungen hinter ihm posend und tanzend ins Bild drängen. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Texte nicht ihre sind. Aber darum geht es ihnen nicht. Es geht um die Pose und eigentlich auch darum, dass ich hier gerade mit einer Kamera anwesend bin. Ich denke an HipHop und damit an meine Jugend. Meine Freunde und ich glaubten damals mit Rap eine neue Sprache gefunden zu haben. Doch als HipHop Mainstream und als Sprache für alle verständlich wurde, verlor sie für uns ihre Kraft und ihre Subversivität. Und das sehe ich auch auf dem Display der Kamera. Ein Bild, das eine sozialromantische Geschichte von Rap als globaler Sprache der Straße erzählt, über welche die Straßenkinder angeblich einen gemeinsamen für alle verständlichen Ausdruck finden.
Könnte ich jetzt den Ton wegdrehen oder wäre ich taub wie Xavier, dann würde das Bild nicht von der Sprache, sondern von den Körpern erzählen. Dann könnte man die sich bewegenden Körper der Jungen sehen, die alle eine Hand vor den Mund halten, als möchten sie auf die Bedeutungslosigkeit der Sprache hinweisen. Und in genau diesem Augenblick drängt sich Xavier vor die Kamera und beginnt auch zu rappen, das heißt, nicht wirklich zu rappen, er tut so als ob. Er führt die linke Hand zum Mund, als würde er ein Mikro halten, bewegt sich zum Takt der Musik, die er nicht hört, und er gestikuliert mit der rechten freien Hand. Xavier rappt ohne Worte, als ob er sich eine eigene Geschichte erzählen würde. Eine Geschichte, die man nur mit den Augen hören kann. Die beiden Beatboxer geben noch immer den Takt vor. Aber wir alle, die wir da stehen, beginnen nach und nach zu verstummen und können nur noch schauen. Kein Wort kommt über Xaviers Lippen, nur ab und zu ist ein Stöhnen zu vernehmen. Und dann kann ich es in dem Bild sehen: Xavier, der das Dilemma der Bilder und der Körper, der Geschichten und der Unterschiede auf den Punkt bringt. Xavier, der taubstumm ist und trotzdem rappt.